Schwerpunktheft (print)
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Der Artikel untersucht die konzeptionellen Ursprünge der Abhängigkeitsproblematik in Lateinamerika sowie die Entstehung der Dependenztheorien ab Mitte der 1960er Jahre. Der Fokus liegt dabei auf dem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umfeld in Chile. Zuerst werden jene intellektuellen Traditionen und akademischen Kontexte aufgezeigt, in denen die Dependenztheorien ihren Ursprung nahmen. Im Anschluss werden vier dependenztheoretische Arbeitsgruppen näher beleuchtet, um deren institutionelle Verankerung sowie thematischen Schwerpunkte darzustellen. Der Artikel endet mit einer Einschätzung dependenztheoretischer Ansätze hinsichtlich ihrer Bedeutung im Feld der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften. Die Autorin vertritt die These, dass dependenztheoretische Ansätze zwar wesentlich zum Verständnis von Unterentwicklung beitragen konnten. Die Ausblendung akademischer Abhängigkeit selbst stellt jedoch eine Leerstelle dar, die es im Rahmen einer Reformulierung des Abhängigkeitsparadigmas zu berücksichtigen gilt.
Dieser Artikel entwickelt eine dependenztheoretisch inspirierte Kritik am lateinamerikanischen Neodesarrollismo, die er anhand einer Diskussion von Aspekten der jüngeren Wirtschaftsentwicklung Argentiniens empirisch fundiert. Er kritisiert insbesondere zwei Dimensionen dieser Denkschule als unrealistisch und politisch irreführend: die Konzeption des kapitalistischen Weltmarkts als Gefüge, in dem Nationalökonomien im Rahmen eines Positivsummenspiels miteinander konkurrieren, sowie die Vorstellung von Nationen als kollektiven Akteuren. Die Bedeutung dieser Kritikpunkte erweist sich am argentinischen Beispiel unter anderem an der ausbleibenden Transformation der Produktionsstruktur und an den anhaltenden Klassenkon?ikten im Rahmen des Prozesses wirtschaftlicher Entwicklung.
Theoretisch-konzeptionell zielt der Beitrag auf den Mehrwert einer post- bzw. dekolonialen Erweiterung der Dependenztheorie. Dazu werden vor allem die Stärken beider Ansätze aufgezeigt und eine komplementäre Betrachtung materieller und immaterieller Auswirkungen von Dependenz und Di?erenz angestrebt. Empirisch dient die Auseinandersetzung um das neo-extraktivistische Entwicklungsmodell Boliviens als Bezugspunkt, um die Vielschichtigkeit und Ambivalenzen des laufenden Transformationsprozesses und den Mehrwert des Dialogs beider Theorieströmungen zu illustrieren. Es werden die ökonomischen und sozialpolitischen Erfolge der Regierung Morales gewürdigt, aber auch Grenzen, Widersprüche und Ausschlüsse benannt. Am Kon?ikt um den Bau einer mehrspurigen Fernstraße wird exemplarisch auf die politischen und sozial-ökologischen Kon?iktlinien verwiesen und die Fortschreibung neokolonialer Logiken und vertikaler Herrschaftsmuster sichtbar gemacht. So trägt das extraktivistische Entwicklungsmodell in Bolivien einerseits zu einem graduellen Abbau von Dependenz sowie zu einem Auf- und Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Politiken und einer deutlichen Stärkung des Staates im Innern sowie nach Außen bei. Andererseits bleibt das Entwicklungsmodell ökonomisch volatil und begünstigt politisch autoritär-paternalistische Tendenzen, die im direkten Widerspruch zu den Dekolonisierungs- sowie Demokratisierungsversprechen der Regierung stehen.
In diesem Beitrag soll die Ausstrahlung des lateinamerikanischen Dependenzparadigmas auf Europa rekonstruiert werden. Die theoriegeschichtliche Analyse konzentriert sich dabei nicht auf die Rezeption der lateinamerikanischen Schule selbst, sondern im Vordergrund steht vielmehr, wie Elemente dieser Denkschule in den 1970er und 1980er Jahren auf die europäische Situation angewandt wurden. Dafür werden Forschungsnetzwerke und deren Analysen zu Kern-Peripherie-Beziehungen in Europa dargestellt. All diese Netzwerke standen dem alten Entwicklungsparadigma von manchen als von oben' oder nach außen orientiert' bezeichnet kritisch gegenüber. Ein neues Paradigma von unten' sollte hingegen strategische Elemente einer selektiven Abkoppelung und der self-reliance enthalten. Der europäische Integrationsprozess spielte für viele eine wichtige Rolle in den Einschätzungen zukünftiger Entwicklung, die noch heute eine große Aktualität zu besitzen scheinen. Der Autor hält es für fruchtbar, die Forschungsagenda der Europäischen Dependenzschule" wieder aufzunehmen, zu präzisieren und an die geänderten Rahmenbedingungen anzupassen.