Zwangsehe, Ehrenmord, Genitalbeschneidung, Importbräute, Frauenhandel oder Kopftuchzwang sind zentrale Begriffe in emotionalen und kontroversiellen Debatten um Geschlechteregalität in multikulturellen Gesellschaften. Einige Feministinnen warnen vor den negativen Auswirkungen des Multikulturalismus auf Frauen und Mädchen, wenn Kultur zur Legitimierung von Gewalt oder Unterordnung von Frauen herangezogen wird. Mit diesen Themen befasste Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kritisieren, dass Frauen und Mädchen im Namen der Kultur im Stich gelassen werden und durch fehlende Interventionen familiärer oder kulturell legitimierter Gewalt ausgeliefert sind.
Andere hingegen betonen die Gefahr, dass die aktuelle Debatte zu "Gewalt" Gefahr läuft, Frauen zu Opfern und zu "Anderen" zu machen. Darüber hinaus werden durch die Debatten um Frauen als „Opfer ihrer Kulturen“ bestimmte ethnische und religiöse Minderheiten mit „Traditionen“ in Verbindung gebracht, die ihre „Kulturen“ als inhärent frauenfeindlich erscheinen lassen. Auch NGOs, die gehandelte Frauen beraten, verweisen immer wieder darauf, dass das Ziel des "empowerments" von Frauen weniger den Opferstatus betonen als die Handlungsfähigkeit dieser Frauen stärken sollte.
Die Unvereinbarkeit von Feminismus und Multikulturalismus wird in der Folge häufig als Erklärung für die Abkehr von multikulturellen Ansätzen in Theorie und Politik herangezogen. Die vorbehaltlose Anerkennung kulturell legitimierter Praktiken erscheint angesichts von Gewalt und Unterdrückung problematisch. Doch genauso umstritten bleibt die Verwerfung von pluralen Ansätzen und die Forderung nach Assimilation, die Selbstbestimmung begrenzt und Lebensentwürfe einschränkt.
Statt multikulturelle Ansätze zum Schutz von Frauen und Mädchen zu verwerfen, sollen in diesem Band Wege aufgezeigt werden, die das Verhältnis von Multikulturalismus und Feminismus neu bestimmen und Frauen- wie Menschenrechte in multikulturellen Gesellschaften thematisieren. Die Beiträge bemühen sich, sowohl historische Linien nachzuzeichnen, als auch die je eigene Perspektive des Schreibenden bzw. der Schreiberin jeweils kritisch zu reflektieren. Die Thematik wird zudem transdisziplinär beleuchtet, indem auch zuständige ExpertInnen aus NGOs und Verwaltung zu diesen Grundsatzreflexionen von „dritten Wegen“ zwischen Assimilation und Abgrenzung, aber auch zwischen postkolonialen Theorien des Anti-Essentialismus und liberalen Ansätzen des Universalismus zur Mitarbeit eingeladen wurden.
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Inhalt
Sabine STRASSER, Birgit SAUER
Zwangsfreiheiten
Wege zwischen Autonomie und Anpassung in multikulturellen Gesellschaften
Sawitri SAHARSO
Gibt es einen multikulturellen Feminismus?
Ansätze zwischen Universalismus und Anti-Essenzialismus
Elisabeth HOLZLEITHNER
Herausforderungen des Rechts in multikulturellen Gesellschaften
Zwischen individueller Autonomie und Gruppenrechten
Birgit SAUER
Gewalt, Geschlecht, Kultur
Fallstricke aktueller Debatten um „traditionsbedingte“ Gewalt
Sabine STRASSER
Ist doch Kultur an allem schuld?
Ehre und kulturelles Unbehagen in den Debatten um Gleichheit und Diversität
Christa MARKOM, Ines RÖSSL
Exit-Möglichkeiten in Theorie und Praxis
Bedingungen für Ausstiegsmöglichkeiten am Beispiel von Zwangsverheiratungen
Nora GRESCH, Leila HADJ-ABDOU
„Kopftuchprovokationen“
Implikationen der Hierarchisierung von Gleichheitsimperativen in kontemporären feministischen Diskursen
Corinna MILBORN
Weibliche Genitalverstümmelung in Europa
Unni WIKAN
Das Vermächtnis von Fadime Şahindal
HerausgeberInnen
Sabine STRASSER, Jahrgang 1962, ist Associate Professor an der Middle East Technical University und Senior Researcher an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Birgit SAUER, Jahrgang 1957, ist Politikwissenschaftlerin und Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Tübingen und an der FU Berlin. Sie war Gastprofessorin an der Kon-Kuk-Universität in Seoul/Korea, an den Universitäten Klagenfurt/Österreich, Mainz/Deutschland und an der Florida Atlantic University. Ihre Forschungsschwerpunkte beinhalten Governance und Geschlecht/Critical Governance Studies, Politik der Geschlechterverhältnisse, Staats-, Demokratie und Institutionentheorien, Politik und Kultur sowie vergleichende Policy-Forschung.