Veranstaltungsbericht

Venezuela – Utopien und Krisen.

In den letzten Jahren war das Bild Venezuelas in der öffentlichen Wahrnehmung von einer enormen Polarisierung geprägt. Die von Hugo Chávez im Jahr 1998 ausgerufene „Bolivarianische Revolution“ bot für viele Menschen Anlass zur Hoffnung auf eine konkrete Alternative zum neoliberalen Kapitalismus. Ihr Scheitern, das mit einer massiven Wirtschaftskrise und einer zunehmend autoritären Regierungspolitik einherging, führte dagegen zu einer Vorstellung von Venezuela als Land am Rande des Kollapses. Ein Veranstaltungsbericht.

 

 

Am 19. November 2020 wurden im Rahmen einer online-Podiumsdiskussion zwei Publikationen vorgestellt, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben: Einerseits das Buch Education Policies and Counter-Hegemony in Bolivarian Venezuela (dt. Bildungspolitik und Gegenhegemonie im Bolivarianischen Venezuela) von Margarita Langthaler, andererseits die aktuelle Ausgabe des Journals für Entwicklungspolitik mit dem Titel Venezuela: Utopien und Krisen (Schwerpunktredaktion: Jonathan Scalet und Lukas Schmidt).

 

Dazu waren die an den Publikationen beteiligten Autor*innen Marta Lía Grajales, Margarita Langthaler und Jonathan Scalet sowie die Künstlerin und Journalistin Zoraida Nieto geladen. Durch die Veranstaltung führte Daniela Paredes (ÖAW) in Co-Moderation mit Clemens Pfeffer (Mattersburger Kreis).

 

Unvollständige Deutungen der Bolivarianischen Revolution.

Jonathan Scalet erläuterte zu Beginn der Veranstaltung, warum die Interpretation der Bolivarianischen Revolution von Anfang an umkämpft war und wo im linken wie im rechten Spektrum blinde Flecken in ihrer Bewertung liegen. Die Utopie eines radikaldemokratischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wurde auf beiden Seiten und weit über die Grenzen Venezuelas hinaus politisch instrumentalisiert, wobei in der Kritik der Rechten vor allem zwei Punkte nicht ausreichend reflektiert worden seien: Einerseits die postkoloniale Kondition des Landes, welche sich in der traditionellen Verteilung von politischer Macht und ökonomischem Reichtum entlang ethnischer und rassizifierter Linien äußerte, durch die die nicht-weiße Mehrheitsbevölkerung die Institutionen der repräsentativen Demokratie als ausschließend und repressiv empfand. Andererseits wurde in der medialen Berichterstattung nicht ausreichend berücksichtig, dass Venezuela als eine – in die kapitalistische Weltwirtschaft eingebundene – Erdölökonomie mit gewissen strukturellen Abhängigkeiten und Einschränkungen zu kämpfen hat. Fehlentwicklungen wie Klientelismus oder die mangelnde produktive Basis der Wirtschaft dürften nicht ausschließlich auf Fehlkonzepte linker politischer Strategien zurückgeführt werden.

 

In linken Deutungen werde hingegen oft der Charakter der Revolution verkannt, wenn sie als Gegenentwurf zum zapatistischen Konzept der Gesellschaftsveränderung ohne Ergreifung der (Staats)macht dargestellt wird. Denn das von der Regierung verfolgte Projekt der radikalen Demokratisierung, das mit der Machtübernahme von Hugo Chavez formal eingeleitet wurde, basierte selbst auf jahrzehntelangen Organisationsprozessen von historisch marginalisierten Gruppen. Diese hatten eben nicht das Ziel, den für sie ausschließenden Staatsapparat zu übernehmen, sondern wollten ihn fundamental in Richtung einer Rätedemokratie transformieren. Eine problematische Wendung nahm die Revolution zu jenem Zeitpunkt, als die Regierung begann, sich von ihren Idealen zu entfremden. Doch sind, so Scalet abschließend, „die zivilgesellschaftlichen Organisationsprozesse mit der aktuellen Krise nicht verschwunden und genau darauf sollte eine kritisch-solidarische Perspektive den Fokus legen!“

 

Chancen und Grenzen von Bildung als gegenhegemoniales Projekt.

Margarita Langthaler skizzierte die Idee vom Aufbau einer kulturellen Gegenhegemonie durch Bildung, die für viele soziale Bewegungen in Lateinamerika eine wesentliche Rolle spielt. Dieser kollektiven Vorstellung von der Veränderungsmacht von Bildung wurde in den ersten Jahren der Regierung Chávez durch die Erhöhung der Bildungsbudgets Rechnung getragen. Da sich die traditionellen Bildungsinstitutionen jedoch gegen eine Öffnung für breite Gesellschaftsschichten wehrten, führte die Regierung ein bolivarianisches Parallelsystem ein, das über Bildungsmissionen (Misiones) und eigene Universitäten vielen Menschen erstmals einen Zugang zu formalen Abschlüssen ermöglichte. Seit der Wirtschaftskrise ab 2013 haben die bolivarianischen Institutionen jedoch stark an Ansehen verloren, wodurch das Bildungssystem als Bollwerk der traditionellen Eliten erhalten blieb und die Ungleichheit sogar noch zunahm.

 

Die Perspektive der sozialen Bewegungen.

Die venezolanische Menschenrechtsaktivistin Marta Lía Grajales ging in ihrer Videobotschaft, die im Rahmen der Veranstaltung eingespielt wurde, detailliert auf die Rolle von popularen Bewegungen im Kontext der aktuellen Krise ein. In der Bolivarianischen Revolution entwickelte sich laut Grajales eine symbiotische Beziehung zwischen Bewegungen und Regierung mit dem Ziel, populare Selbstverwaltung „von unten“ in Kooperation mit dem Staat aufzubauen. Angesichts von Wirtschaftskrise und internationaler Blockadepolitik wurde jedoch die zentrale Rolle der subalternen Klassen durch jene der Partei-Avantgarde ersetzt und die wirtschaftliche Unterstützung des Staates für die Bewegungen zurückgefahren. Dennoch gebe es auch nach vielen Jahren der Krise Initiativen, die aktuell ihre politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten vertiefen könnten, indem sie sich eine gewisse Unabhängigkeit von staatlicher Unterstützung aufgebaut haben. Genau diese Autonomie gegenüber der Regierung sei auch Voraussetzung dafür, dass progressive soziale Bewegungen die ursprünglichen Ideale der Revolution auch in der Krise weitertragen können.

 

David Untersmayr ist Praktikant im Paulo Freire Zentrum. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at.

 

Weiterführende Links:

 

Venezuela: Utopien und Krisen. JEP, Volume XXXVI • Issue 2 • 2020
Paulo Freire Zentrum

 

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