Neue Ära oder absolutistische Wende?
Wie steht es um das einstige „Wirtschaftswunder China“? Innerhalb von 40 Jahren ist es gelungen, aus einem sehr armen Land zur größten Exportmacht und weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft aufzusteigen. Mit der Machtübernahme Xis wurde dann eine „neue Ära“ ausgerufen. Die Erwartungen waren groß. Auch außerhalb Chinas wurde damit gerechnet, dass Xi sowohl ökonomische als auch politisch liberale Reformen einleiten würde, um „Mao vom Platz des himmlischen Friedens zu entfernen“. Daraus wurde nichts. Nicht nur habe sich die neue Ära als „absolutistische Wende“ herausgestellt; ebenso sei das Bild des Wirtschaftswunders China aus den Medien verschwunden.
Sinkendes Wirtschaftswachstum
Das verlangsamte Wirtschaftswachstum ist für Fuchs auch Folge abnehmender Produktivitätszuwächse in einer Phase, in der die chinesische Führung einen Umbau des Wirtschaftsmodells und eine Verringerung der Exportabhängigkeit anstrebt. Unter dem Motto „Industrial Upgrading“ soll die Industrieproduktion in Bereichen wie Digitalisierung und Vernetzung aufgewertet werden. Zusätzlich hat sich der Handelskonflikt mit den USA auf die politökonomische Situation ausgewirkt. Alleine in der südchinesischen Stadt Dongguan mussten in den vergangenen Jahren mehrere zehntausend Firmen schließen, insgesamt verloren mehrere Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze in der Industrieproduktion. Wirtschaftliche Auswirkungen hat, so Fuchs, zudem die großflächig angelegte Antikorruptionskampagne von Xi, die auch vor Führungskadern in Staat und Partei keinen Halt machte: 1,4 Millionen Parteikader waren betroffen. Die Folge: aus Angst vor der Kampagne wurden nur noch wenige Reformen auf staatlicher und lokaler Ebene umgesetzt.
Staatlich koordinierte Repression gegen Aktivist*innen
Die neue Ära unter Xi Jinping ist außerdem von zunehmenden sozialen Unruhen gekennzeichnet. In den Jahren 2015-2017 haben unabhängige Beobachter*innen die Zahl der Arbeitskämpfe, Streiks, Straßenblockaden und Demonstrationen auf 6.500 geschätzt. Die Forderungen haben sich von offensiven (wie etwa Lohnerhöhungen) hin zu defensiven Aspekten (ausstehende Löhne, nicht bezahlte Sozialleistungen) verlagert. Der Staat geht koordiniert gegen Aktivist*innen und Mitglieder von NGOs vor, wie bei den Arbeiter*innenprotesten in Shenzhen im Frühjahr 2018, als massenhaft Aktivist*innen verhaftet wurden. Was war passiert? Eine Gruppe von Arbeiter*innen in Shenzhen wollte eine – vom Gewerkschafts- und Arbeitsgesetz abgedeckte – Betriebsgewerkschaft gründen. Dieses Ansuchen wurde verweigert, für illegal erklärt und sechs Beteiligte entlassen. Als sich unterschiedliche Formen der Solidarisierung mit den Beteiligten abzeichneten, eskalierte die Situation weiter. Die Lokalregierung ging mit direkter Repression vor und nahm 29 Aktivist*innen in Haft. Die Repressionsmaßnahmen gingen soweit, dass koordinierte Razzien in Peking und anderen Städten Chinas durchgeführt wurden. Insgesamt wurden 100 Arbeiter*innen zumindest temporär in Polizeigewahrsam genommen. Laut Fuchs existieren heute fast alle beteiligten Arbeits-NGOs nicht mehr oder können nicht mehr in der Form arbeiten, wie sie das bis dato getan hatten.
Feministische Proteste
Neben ländlichen Protesten entstanden neue Formen des feministischen Aktivismus: Als Kunst getarnte Proteste. So gingen im Februar 2012 unter dem Motto „Blood Brides“ (dt. Blut-Bräute) Aktivist*innen in blutverschmierten Hochzeitskleidern auf die Straßen, um gegen häusliche Gewalt zu protestieren. Seit der Ära Xi sind auch die als Aktionskunst getarnten Proteste staatlicher Repression ausgesetzt. Die als „Feminist Five“ (dt. feministische Fünf) bekannten Aktivist*innen wurden 2015 verhaftet, weil sie mit einer Stickeraktion in Bussen und Zügen auf sexuelle Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln aufmerksam machten. Landesweit koordinierte Razzien gegen feministische Aktivist*innen wurden damit begründet, dass sie das „Ansammeln einer Menschenmenge, um die öffentliche Ordnung zu stören“ geplant hätten. Dieses Delikt, so Fuchs, sei die Regel, um Verhaftungen von staatlicher Seite her zu legitimieren. Und auch wenn die Beteiligten wieder freigelassen wurden: vergleichbare Aktionen gab es in den letzten Jahren kaum mehr. Die öffentlichkeitswirksamen Festnahmen haben zu einer landesweiten Einschüchterung geführt.
Seit Anfang der 2000er Jahre gibt es rechtliche Mittel gegen staatliche Repression, es wurden Ansätze rechtsstaatlicher Strukturen aufgebaut. Doch, so Fuchs, das helfe wenig, wenn „Freund*innen immer noch im Gefängnis sitzen und man weiß nicht wo“.
Daniela Hinderer
Die Autorin ist Mitglied im Online-Redaktionsteam. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at
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