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Neoliberal oder progressiv? Die Zukunft der EU-Industriepolitik

Der „Rückzug des Staats“ im Neoliberalismus lässt sich auch in der Industriepolitik beobachten. Angesichts der globalen Finanzkrise wurde die Debatte um Industriepolitik allerdings wieder aufgegriffen. Wie könnte Industriepolitik progressiv gestaltet werden, um künftigen Krisen vorzubeugen?

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In Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Plurale Ökonomik und der Studienvertretung Volkswirtschaft, Sozioökonomie und Socio-Ecological Economics and Policy (dt.: sozioökologische Ökonomie und Politik) der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien präsentierte der Mattersburger Kreis am 15. Jänner 2019 das kurz zuvor erschienene Journal für Entwicklungspolitik (JEP) in der Executive Academy der WU. Unter dem Titel „Progressive Industrial Policy“ (dt.: progressive Industriepolitik) beschäftigt sich die Doppelausgabe mit der Frage, wie eine globale Industriepolitik aussehen müsste, um der zunehmenden Neoliberalisierung und den damit verbundenen Krisen entgegenzuwirken. Am Podium saßen Herausgeberin und Mitautorin der JEP-Ausgabe Julia Eder (Johannes Kepler Universität Linz), Roman Stöllinger (Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche) und Angela Wigger (Radboud University, Niederlande). Unter der Moderation von Johannes Jäger (Fachhochschule des BFI) diskutierten sie die aktuelle Industriepolitik der EU.

 

Was meint „progressiv“ in diesem Kontext?

Laut Soziologin Julia Eder seien demokratische Strukturen die Grundlage für progressive Industriepolitik. Wenn die Arbeiter*innen den Unternehmen Gewinne sichern, „muss auch etwas für sie herausschauen“, forderte Eder. Eine progressive Industriepolitik müsse als Chance zur Beschäftigungsförderung gesehen werden bei gleichzeitiger Umlenkung von Ressourcen in den Sozialbereich. Es bestehe sonst die Gefahr, bei der Förderung von hauptsächlich männlichen Beschäftigten im industriellen Sektor die größtenteils weibliche Arbeit im Dienstleistungs- und Sorgebereich zu vernachlässigen und dadurch bestehende geschlechterspezifische Ungleichheiten in Arbeitsbeziehungen zu verstärken. Soll also die öffentliche soziale Infrastruktur verbessert werden, müssen auch Ressourcen aus anderen Sektoren in diese Bereiche fließen. Aber nicht nur Teilhabe an den Profiten, sondern auch gerechte Teilhabe an den Produktionsmitteln müsse angestrebt werden, ergänzte Politologin Angela Wigger. Arbeiter*innen sollten auch Mitbesitzer*innen von nicht staatlichen Fabriken werden. Denn ein wesentlicher Krisenfaktor, (das kristallisierte sich während des Abends an mehreren Stellen heraus) sei die immer schärfere Trennung von Arbeit und Kapital beziehungsweise die ungerechte Verteilung von Kosten und Nutzen des angestrebten Wirtschaftswachstums.

 

Radikaler Wandel oder Marketing-Gag?

Aktuell erlebe die Industriepolitik in der Europäischen Union eine Renaissance, so Wigger. Nach der langjährigen Dominanz des Finanzkapitals und den damit assoziierten Krisen, solle der Industriesektor die Union wieder „zukunftssicher“ machen. Doch außer den zahlreichen Foren, Vorständen und Behörden, die zu diesem Zwecke geschaffen wurden, deute wenig darauf hin, dass sich die EU von ihrer neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte verabschieden würde. Nachdem die Forderung nach „Flexibilität“ in jüngster Vergangenheit wieder vermehrt unter Kritik steht (man denke an die Debatte um die 60-Stunden-Woche in Österreich), fordert die Europäische Kommission nun neben „Wettbewerbsfähigkeit“ auch „Anpassungsfähigkeit“. Dabei handle es sich um reine Schönfärberei, so Wigger. Letztlich sei der verstärkte Wettbewerb als Hauptmotivator der Industrie wieder nur eine „neoliberale Attacke auf die Arbeitnehmer*innen“, war auch Eder überzeugt. Arbeitgeber*innen nutzen nicht selten Lohnkürzungen und Arbeitszeitflexibilisierung, um ihre Konkurrenz- beziehungsweise „Anpassungsfähigkeit“ zu optimieren.

Smartes Wetteifern.

 

Roman Stöllinger sah in der sogenannten „Smart Specialisation Strategy“ (dt.: intelligente Spezialisierungsstrategie) der EU eine neue Entwicklung mit gewissem progressiven Potenzial. Einzelne EU-Mitgliedstaaten sollen dabei regionsspezifische Alleinstellungsmerkmale im industriellen Sektor ausfindig machen, sich spezialisieren und dadurch wettbewerbsfähig werden. Stöllinger sieht hinter dieser Standortorientierung einen beginnenden „Entdeckungsprozess“, bei dem er mit hoher Partizipationsbereitschaft rechnet. Legt ein EU-Land nämlich ein entsprechend ausgefeiltes Spezialisierungskonzept vor, wird für dessen Umsetzung tief in den Fördertopf gegriffen. Dies könnte vor allem für Länder der europäischen Peripherie eine große Chance bieten.

Kohäsion durch Konkurrenz?

 

Wigger bezweifelte, ob durch die vermeintlich neue Strategie die von der EU propagierte „Kohäsionspolitik“ entsprechend realisiert werden kann. Statt die EU-Länder einander (wirtschaftlich) näher zu bringen, könnten sie die strukturellen Unterschiede nochbefördern. Wigger illustriert die Gefahr eines Auseinanderdriftens der EU-Staaten anhand ein konkreten Szenarios: Es wäre naheliegend, dass sich ein Land wie Portugal, das von der Wirtschaftskrise relativ stark getroffen wurde, auf den Fischfang spezialisiert. Beim Fischfang gäbe es aber vergleichsweise wenig Spielraum für Innovationen. Es gibt keine langen Produktionsketten, wo neue Verfahren etabliert werden könnten. Zugleich gibt es in anderen Industriesektoren mehr Möglichkeiten, um Industrie mit Innovation zu verbinden und somit wesentlich größere Effizienzgewinne zu bewirken. Dazu zählen Branchen wie der Kraftfahrzeugbau oder die Elektrotechnik, die Länder wie Deutschland bereits in der Vergangenheit durch Spezialisierung für sich beanspruchen konnten und dementsprechend hohe Umsätze verzeichnen. Werden mit dem entsprechenden Fonds der EU nun die innovativsten Strategien mit den höchsten Förderungen belohnt, könne das die ökonomische Kluft zwischen den Ländern zusätzlich vergrößern.

 

Neue Ansätze.

Trotz wesentlicher Kritikpunkte am Status quo waren die Diskutant*innen nicht hoffnungslos. In der neuen Ausgabe des JEP werden konkrete Maßnahmen präsentiert, wie eine progressive Industriepolitik die strikte Trennung von Kapital und Arbeit ein Stück weit aufbrechen und so eine Demokratisierung der Wirtschaft in Gang setzen könnte.

 

Marlene Eichinger ist Mitglied im Online-Redaktionsteam. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at

 


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