Am 12. November wurde im Volkskundemuseum die Ausgabe „Food Sovereignity under Occupation? Alternative Developement and Resistance Economies in Palestine“ des Journals für Entwicklungspolitik (Band XXXIV, Ausgabe 1, 2018) im Rahmen einer Podiumsdiskussion vorgestellt. Nur Arafeh (Policy Fellow bei Al-Shabaka, Ramallah), Helmut Krieger (Institut für Internationale Entwicklung, Universität Wien) und Philipp Salzmann (Politikwissenschafter und Aktivist bei FIAN Österreich und der Bewegung für Ernährungssouveränität) diskutierten zusammen mit der Moderatorin Brigitte Reisenberger (FIAN Österreich) über die Potentiale und Grenzen von Bestrebungen zur Erreichung von Ernährungssouveränität (der Selbstbestimmung von Nahrungsmittelproduktion, -konsum und -verteilung) in den besetzten palästinensischen Gebieten.
Die Veranstaltung brachte AktivistInnen und ForscherInnen aus der transnationalen Bewegung für Ernährungssouveränität und der kritischen Entwicklungsforschung zusammen, und versuchte an der Schnittstelle beider Bereiche das Konzept der ‚Widerstandsökonomie‘ zu präzisieren.
Besatzungsmächte und die Kontrolle über natürliche Ressourcen.
Philipp Salzmann stellte einleitend fest, dass das Ernährungsregime in Palästina im Kontext der israelischen Besatzung gedacht und analysiert werden muss. Die Besatzung bedinge die Zerstörung der ansässigen Agrargemeinschaften und ermögliche Israel die Kontrolle importierter und exportierter Agrarprodukte und sämtlicher anderer Ressourcen. Hinzu komme die Unterdrückung alternativer Modelleder Nahrungsmittelproduktion. Die Agrarwirtschaft sei, so Salzmann, ein Schauplatz, an dem der Widerstand gegen die Besatzung ausgetragen würde. AktivistInnen der transnationalen Bewegung für Ernährungssouveränität versuchen innerhalb Palästinas eine öffentliche Debatte über den Zugang zu und Kontrolle über Land zu führen und die Gründung landwirtschaftlicher Kooperativen zu fördern. Der Erfolg dieser Bestrebungen sei letztlich auch von der Unterstützung internationaler AkteurInnen abhängig, die in der Bewegung organisiert sind.
Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Grundrechte.
Die palästinensische Bevölkerung sehe sich laut Helmut Krieger mit doppelten Restriktionen konfrontiert. Die Kontrollmechanismen gehen einerseits von der israelischen Besatzungsmacht aus, andererseits von neoliberalen Politiken der palästinensischen lokalen Behörden. Diese Situation trage verstärkend zu der ‚Entwicklungskrise‘ bei, in der sich Palästina befindet. Auf der Suche nach Alternativen begannen progressive Bewegungen verstärkt in den letzten Jahren sich an einem, auf Grund- und Freiheitsrechten basierenden Ansatz einer radikalen Re-Demokratisierung zu orientieren und den Blick in Richtung wirtschaftlicher Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zu richten. Mit dieser Ausrichtung gewännen auch landwirtschaftliche Kooperativen an neuer Bedeutung. Sie fungieren als Institutionen des sozialen Zusammenhalts sowie als Begegnungsstätten transnationaler Solidarität, so Krieger. Durch sie können neue Strategien alternativer Entwicklung in Palästina geschaffen werden. Krieger betonte damit auch, dass landwirtschaftliche Kooperativen besonders inklusiv gegenüber verschiedenen sozialen Klassen wirken.
Widerstandsökonomie und alternative Entwicklungen.
In den rezenten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Konzept einer ‚Widerstandsökonomie‘ rückte vermehrt die Verbindung von ökonomischen und sozialen Beziehungen in den Vordergrund. Im konkreten Fall der palästinensischen Gebiete ließe sich, so Nur Arafeh, unter dem Begriff ein Ansatz fassen, der die ökonomischen Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt der politischen Befreiung bzw. ihrer Anforderungen und Ziele beurteilt. Die ‚Widerstandsökonomie‘ kann als eine Form der ‚politisch getriebenen Entwicklung‘ verstanden werden, die von sozialen Werten und Normen gestützt wird, die multidimensional, multifunktional ausgerichtet sind und die politisch soziale Realitäten der Besatzung in die Konzeption alternativer ökonomischer Ansätze für lokale Produktionen miteinbezieht. Der Ansatz steht im Zeichen einer gegen-hegemonialen Strategie, die sich sowohl gegen den – von palästinensischen Behörden geförderten – Neoliberalismus wie auch gegen die israelische Besatzung richtet.
Kontinuität und Herausforderungen.
Arafeh zeigte auf, dass die ‚Widerstandsökonomie‘ ein grundlegend politisches Verständnis von ‚Entwicklung‘ voraussetzt und ein Gegenmodell zu einer wirtschaftsgetriebenen ‚Entwicklung‘ darstellt, in dem die Abhängigkeit von Israel als unüberwindbar dargestellt wird. Als zwei Hauptpfeiler für eine eigenständige Entwicklung Palästinas definierte die Referentin den Zugang zu und die Kontrolle über Land sowie die menschlichen Ressourcen. Konkrete Strategien zur Umsetzung von Widerstandsökonomien im Kontext Palästinas stünden allerdings noch aus. Außerdem sei die Definition der ‚palästinensischen Wirtschaft‘ noch zu vage formuliert und würde der Vielfalt an wirtschaftlichen Sektoren, Formen, Strukturen und geografischen Zonen nicht gerecht. Die ‚Widerstansökonomie‘ müsste vor allem auch jene Bauern und Bäuerinnen berücksichtigen, so Arafeh, die ohne finanzielle Zuschüsse die Bewirtschaftung des Landes nicht aufrecht erhalten bzw. ausbauen können.
Jutta Bichl ist Praktikantin im Paulo Freire Zentrum. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at
Weiterführende Links:
– Journal für Entwicklungspolitik
– FIAN Österreich
– Forum für Ernährungssouveränität Österreich