Abhängigkeit und Entwicklung - von Lateinamerika lernen?
Vor rund 50 Jahren stellten die lateinamerikanischen Dependenztheorien die Entwicklungsforschung auf den Kopf: Statt über innergesellschaftliche Ursachen von „Unterentwicklung“ zu spekulieren, lenkten sie den Blick auf globale Zusammenhänge, Abhängigkeitsverhältnisse, neokoloniale Beziehungen und deren Auswirkungen auf lokale Gesellschaftsstrukturen. Angesichts zunehmender globaler und regionaler Ungleichheiten, treten diese Problematiken heute wieder deutlich ins Bewusstsein. Warum Dependenztheorien in den gängigen Debatten trotzdem kaum eine Rolle spielen und welches Erklärungspotential sie für gegenwärtige Krisen bieten, darüber diskutierten die beiden Herausgeber Stefan Pimmer und Lukas Schmidt mit Gregor Seidl (Journal für Entwicklungspolitik), Rudy Weissenbacher (Wirtschaftsuniversität Wien) und Karin Fischer (Obfrau des Mattersburger Kreises) im El Café Wien.
Aufstieg und Fall der Dependencia.
Einleitend warf Stefan Pimmer einen Blick zurück auf die Geschichte der Debatten um Abhängigkeit und Entwicklung. Diese bildeten weniger eine einheitliche Schule, als ein Diskussionsfeld, das sein einendes Moment in der Frontstellung gegen eurozentristische Entwicklungskonzepte gefunden habe. Unter der Prämisse, dass „Entwicklung“ und „Unterentwicklung“ keine Stadien eines linearen Geschichtsverlaufes darstellten, sondern untrennbar zusammenhängten, habe sich im Lateinamerika der 60er und 70er Jahre eine interdisziplinäre Wissensproduktion über Art und Formen dieser ungleichen Beziehung entfaltet. In Europa hingegen, seien diese vielfältigen Ansätze meist zu einer bloßen Umkehrung der Modernisierungstheorien (welchen ein stufenförmiges Entwicklungsverständnis zu Grunde liegt) banalisiert und aus dem akademischen Feld verdrängt worden.
Die dekoloniale Erneuerung der Dependenztheorien.
Wie fruchtbar diese Theorie jedoch heute noch sein kann, zeigte im Folgenden JEP-Redakteur Gregor Seidl am Beispiel der lateinamerikanischen „Dekolonialitäts-Debatten“, die dem Abhängigkeitsdenken neues Leben eingehaucht haben. Aus dekolonialer Perspektive seien gesellschaftliche Ungleichheit und Abhängigkeit keine rein ökonomischen Phänomene, sondern untrennbar mit einer eurozentristischen Vorstellungswelt verwoben, die den kolonisierten Bevölkerungsgruppen die Fähigkeit zu „höheren intellektuellen Leistungen“ und „zivilisatorischer Entwicklung“ abspreche und Unterdrückung und Ausbeutung rechtfertige. Wesentlich für die theoretische Weiterentwicklung seien die anti-neoliberalen Proteste der 90er Jahre gewesen, die sich nicht mehr unter Anrufung einer bestimmten Klasse, sondern einer indigenen Identität formiert hatten. Um diesen Lebensrealitäten gerecht zu werden, sei es nötig gewesen, die alltägliche Erfahrung von Rassismus und Diskriminierung in die Analyse zu integrieren. „Damit öffnete sich ein geschichtlicher Horizont, der mit der Dependenztheorie alleine nicht erklärbar war“ so Seidl.
Abhängigkeit auch in Europa?
Rudy Weissenbacher beschäftigte sich besonders mit der sogenannten „europäischen Dependenzschule“, jener Gruppe von DenkerInnen, die ab den 70er Jahren begannen, das dependenztheoretische Instrumentarium auf die „alte Welt“ anzuwenden. Die Bestrebungen des europäischen Staatenbündnisses mussten aus dieser Perspektive scharf kritisiert werden. Kein Friedensprojekt sei es, das hier geplant werde, sondern ein neokoloniales System, das Mitgliedsstaaten auf liberale Wirtschaftspolitiken verpflichte und eigene Entwicklungsstrategien verhindere. Unter den Vorzeichen von Konkurrenz und freiem Handel aber, könne eine Integration ungleicher Partner letztlich nur auf Kosten der wirtschaftlich „Schwächeren“ gehen.
Regionalismus von links?
Anschließend sprach Karin Fischer, über Strategien zur Überwindung von Abhängigkeit. Aus dependenztheoretischer Perspektive sei dies nicht bloß durch den Schutz der eigenen Wirtschaft möglich, sondern erfordere eine umfassende Transformation „von unten“. So habe sich unter dem Begriff „Collective Self Reliance“ bereits in den 70er Jahren eine Debatte zu Möglichkeiten alternativer Entwicklung in kleinteiligen basisdemokratischen Strukturen mit regionalen, sozial- und umweltverträglichen Produktionskreisläufen entfaltet – Ideen, die für aktuelle Alternativ-Konzepte wie Buen Vivir, Post-Wachstum oder partizipative Demokratie höchst anschlussfähig wären. „Wenn wir uns aber die großen öffentlichen Debatten ansehen“, so schloß Fischer, „scheinen uns Konzepte von Regionalisierung und Selbstgenügsamkeit heute vor allem in ihrer völkischen Variante zu begegnen!“
Nun sag, wie hast du‘s mit der europäischen Union?
Doch die StrategInnen der EU, ergänzte Rudi Weissenbacher, hätten diese Ideen aufgegriffen und einfach unter das Primat des Standortvorteils gestellt. „So finden wir die einst radikalen Schlagworte von Autonomie und Dezentralisierung mittlerweile im neoliberalen Gewand der Wettbewerbsregion wieder“. Eine tatsächlich transformatorische Politik dürfe sich daher nicht auf räumliche Arrangements beschränken, sondern müsse mit der Konkurrenzlogik selbst brechen.
In dieselbe Kerbe schlug JEP-Redakteurin Julia Eder aus dem Publikum. Die Erfahrungen der griechischen SYRIZA hätten die Grenzen emanzipatorischer Politiken innerhalb des EU-Vertragskorsetts aufgezeigt. „Nach ihren eigenen Richtlinien müssten die Institutionen der EU eigentlich als Diktatur eingestuft werden“. Wenn die europäische Linke diese Problematik weiterhin ängstlich umschiffe, könnte sich die wachsende Ungleichheit in sehr gefährliche Richtungen entladen.
Eine Wiederbelebung der Dependenztheorien, so waren sich die DiskutantInnen einig, könne dagegen neue Wege aus den analytischen und strategischen Dilemmata der aktuellen Krisen eröffnen.
Von Jonathan Scalet
Der Autor ist Mitglied im Redaktionsteam des Paulo Freire Zentrum. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at