(Er)neu(t)er Machtpol China
Nach dem Zweiten Weltkrieg noch eines der ärmsten Länder der Erde, ist
China mittlerweile die größte Volkswirtschaft am gesamten Globus, mit einer rasant wachsenden Mittelschicht und einem riesigen Marktpotential. Immer mehr chinesische Unternehmen befinden sich unter den größten der Welt, und das Land ist zu einer weltweiten Geldgebernation aufgestiegen, die große Mengen US-amerikanischer Staatsanleihen besitzt und der größte Investor in der globalen Peripherie ist. Der Aufstieg Chinas ist längst nicht mehr zu übersehen.
Legt man einen längeren Zeithorizont fest, so entpuppt sich dieser Aufstieg als Wiederaufstieg. China befand sich nämlich zwischen 1400 und 1800 bereits im Zentrum eines gewaltigen Weltreichs, dem gegenüber die restliche Welt als Peripherie diente, und stellte damals die mit großem Abstand größte Wirtschaftsmacht dar. Erst mit der endgültigen Integration ins kapitalistische Weltsystem konnte China, beginnend mit dem ersten Opiumkrieg (1839-42) seine hegemoniale Stellung nicht mehr aufrechterhalten, und wurde als Folge von Kriegen und Konflikten zunehmend zersplittert und schlussendlich unter ausländischen Mächten aufgeteilt. Dieser Abstiegsprozess kam erst zu einem Ende, als das Land 1949 unabhängig wurde.
Der Grundstein für den erfolgreichen Wiederaufstieg Chinas wurden in der Regierungsperiode Mao Zedong (bis 1976) durch erste Industrialisierungsversuche gelegt, auch wenn diese Zeit von Staatsterror und großen Entbehrungen für die chinesische Bevölkerung geprägt war und der von Mao vorangetriebene „große Sprung nach vorne“ in einer schlimmen Hungersnot endete, die bis zu 30 Millionen Menschenleben kostete. Unter Maos Nachfolger Deng Xiaoping begann 1978 eine langsame Öffnung Chinas nach außen, sowie die Einleitung eines rasanten Aufstiegsprozesses, der das Land schließlich zu einem der am schnellsten wachsenden der Erde machen sollte. Unter Deng führte China erste marktwirtschaftliche Reformen ein, die Landwirtschaft wurde entkollektiviert, private Unternehmen wurden erlaubt, die Löhne stiegen, und das Land begann zu prosperieren. Gestützt auf eine riesige Bevölkerung und somit billige Arbeitskraft, sowie dem Motto „as long as it makes money, it is good for China“ folgend, stieg China nach und nach zur Werkbank der Welt auf und erzielte enorme Wachstumsraten. Das Land spielte mit der Herstellung billiger Konsumgüter eine immer größere Rolle im globalen Handel und brachte zunehmend andere periphere Gebiete unter Druck, die ebenfalls von Exporten lebten aber mit China nicht mithalten konnten. Während China lange dafür bekannt war, nur billige und arbeitsintensive Waren, deren Wertschöpfung gering war, zu produzieren, begann es zunehmend damit, in höherwertige Güterketten zu investieren, um so einen größeren Teil des generierten Surplus an sich zu binden. Im Jahr 2001 trat China der WTO bei, was seine Verflechtung mit der restlichen Welt noch weiter vertiefte. Seither wuchsen die ökonomischen Kennziffern des Landes immer schneller, und China ist zu einem der wichtigsten Player in der globalen Ökonomie und Politik geworden. Kaum eine Entscheidung auf internationalem Parkett wird ohne China getroffen. Eines ist in der weltweiten ökonomischen, politischen und sozialen Debatte inzwischen klar: China wird in Zukunft eine gewichtige Rolle bei der Mitgestaltung der globalen Machtverhältnisse innehaben oder diese sogar als Hegemonialmacht bestimmen.
Per Masterplan zur Fußballmacht
Seit der Machtübernahme Xi Jinpings im Jahr 2012 ist eine offensichtliche Veränderung zu spüren. China ist mittlerweile in einer Position im globalen Machtgefüge angelangt, in der man den chinesischen Einfluss auf globale Machtstrukturen deutlich sehen kann (siehe hierzu die aktuellen Ausgaben des Journal für Entwicklungspolitik JEP 2019-4 und JEP 2020-1). Das zeigt sich unter anderem daran, dass China eine immer gewichtigere Rolle in globalen Institutionen spielt. Gleichzeitig ist innerchinesisch ein deutlicher Wandel hin zu einer nationalistischen Politik zu beobachten. Als Gegenentwurf zum „American Dream“ hat Xi Jinping den „Chinesischen Traum“ ausgerufen. In dessen Zentrum steht das Narrativ einer großen Renaissance Chinas („rejuvenation of the nation“) und eine Rückbesinnung auf vergangene Stärke und Einfluss. Bei der Bevölkerung, in der die Periode des Niedergangs und der Beherrschung durch fremde Mächte bis heute als große Schmach empfunden wird, trifft dieser Traum auf offene Ohren.
Ein Kernelement des „Chinesischen Traums“ stellt neuerdings der Fußball dar. Xi Jinping, selbst ein bekennender Fußballfan, hat schnell die globale Wirkung des Fußballs als weltweit bedeutendster Sport erkannt und offen drei Wünsche kommuniziert. Bis 2050 soll China zu einer Fußballweltmacht aufsteigen, eine Weltmeisterschaft austragen und diese auch gewinnen. Gleichzeitig soll die größte Fußballindustrie der Welt entstehen. Dazu wurden zwei Reformpläne, „The Overall Chinese Football Reform and Development Programme (2015)“ und „The Medium and Long-Term Development Plan of Chinese Football (2016-2050)“ verabschiedet, die den chinesischen Fußball, der bis dahin eher ein Schattendasein geführt hatte, komplett verändern sollen. Die Reformen greifen in den unterschiedlichsten Bereichen und wirken gleichermaßen auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft des Landes. Die Erreichung der Reformziele hat für die chinesische Regierung höchste Priorität.
Erste Effekte der umfassenden Reformen wurden bald in der zunehmenden Wertsteigerung des chinesischen Fußballs sichtbar. Der lange nicht professionalisierte Fußball war bis vor kurzem noch von Korruption und Spielabsprachen geprägt, weswegen Investoren lange nicht bereit waren, für den chinesischen Fußball Geld in die Hand zu nehmen oder ihre Investitionen nach kurzer Zeit bereits zurückzogen. Seit der Ankündigung, den Fußball zum chinesischen Leitsport zu machen, änderte sich die Situation. Chinesische Vereine lockten für Millionenbeträge Spieler und Trainer in die Chinese Super League (CSL), und die Löhne innerhalb der Liga stiegen rasant an. Die TV-Übertragungsrechte an der chinesischen Liga, deren Ausschüttungen inzwischen die größte Einkommensquelle der Vereine darstellt, werden sowohl im Inland – Ti’ao Dongli erwarb die Rechte bis 2025 für umgerechnet 1,4 Milliarden Euro - als auch im Ausland – die Liga wird mittlerweile in rund 100 Ländern übertragen - für immer höhere Geldbeträge verkauft. Und auch an der länger werdenden Liste der Ligasponsoren sieht man, dass immer mehr Unternehmen zur Überzeugung gekommen sind, dass es sich lohnt, Geld für den chinesischen Fußball auszugeben. Auf dieser Liste befinden sich zu einem großen Teil chinesische Unternehmen wie das riesige Versicherungsunternehmen Ping An oder der Autohersteller SAIC Motors, aber auch internationale Firmen wie Nike oder Electronic Arts.
Machtgewinn in allen relevanten (Fußball)Sphären
Nach und nach erlangt China immer mehr Einfluss und Macht in unterschiedlichen Bereichen, die mit dem Fußball in Zusammenhang stehen. Dies wird in den Fußballzentren vermehrt spürbar. Z.B. sind chinesische Unternehmen immer häufiger in europäischen Fußballvereinen involviert. Diese Entwicklung betrifft alle europäischen Topligen gleichermaßen. In manchen für Chinas Unternehmen strategisch wichtigen Regionen wie beispielsweise Mailand (Textilindustrie) oder den englischen Midlands (große Infrastrukturprojekte) wurden sogar alle Fußballvereine der höheren Spielklassen nacheinander aufgekauft. Dieses Vorgehen dient in erster Linie dazu, vermehrt Einfluss auf die regionale Politik zu erlangen und Wirtschaftsverträge einzufädeln. Die Vereinsbesitzer üben auch vermehrt Druck auf die jeweiligen Ligen aus, um Spielzeiten so zu verlegen, dass sie in die chinesische Primetime fallen, damit der rasant wachsende chinesische Fußballmarkt bedient werden kann. Dies wiederum hilft einerseits bei der Akquise weiterer chinesischer Sponsoren, andererseits steigert sich so der Bekanntheitsgrad europäischer Vereine in China.
Ein Aspekt, an dem der zunehmende Machtgewinn chinesischer Unternehmen im Fußballbereich sichtbar wird, sind einzelne Konzerne, die sich in den Kopf gesetzt haben, mithilfe des Fußballs zu globalen Firmenimperien aufzusteigen. Die Wanda Group beispielsweise erwarb nicht nur Anteile am spanischen Hauptstadtklub Atlético Madrid und die Namensrechte an dessen Stadion, sondern übernahm auch die schweizerische Sportrechteagentur Infront Sports und mit ihr die Übertragungsrechte von vielen weltweit beliebten Sportarten und -ligen. Außerdem ist Wanda ein Hauptsponsor der FIFA. Ziel des Unternehmens ist es, eine globale Unterhaltungsachse von Los Angeles über Madrid bis nach Peking zu schaffen, und der Fußball spielt dabei eine Hauptrolle. Wanda ist mit dieser Strategie jedoch nicht allein, auch andere Konzerne wie Suning oder Alibaba streben danach, unterschiedlichste Unternehmensbereiche unter einem Dach zu vereinen und nutzen dazu den Fußball mit seiner globalen Reichweite. Erstmals deutlich wahrnehmbar wurde die Machtverschiebung zugunsten Chinas bei der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland, für die Chinas Mannschaft zwar nicht qualifiziert war, bei der chinesische Unternehmen aber dennoch omnipräsent waren. Drei der sechs Hauptsponsoren kamen aus China und 100.000 chinesische Fans reisten nach Russland. Durch die vermehrte Involvierung chinesischer Unternehmen in den großen internationalen Sportverbänden erhofft sich China weiter steigenden Einfluss im Fußballbereich. Dies entspricht auch der chinesischen Strategie, in internationalen Institutionen eine vermehrte Führungsrolle zu übernehmen. Bei einer möglichen Vergabe einer Fußballweltmeisterschaft an China – die Chancen stehen gut, dass es bald soweit sein wird - sind diese Sponsoringtätigkeiten auf jeden Fall hilfreich.
Fußball zwischen Freundschaft und Ressourcenaneignung
Chinas rasant wachsende Ökonomie benötigt eine immer größer werdende Menge an Rohstoffen. Um diese zu sichern bedient sie sich unter anderem einer besonderen Form der Diplomatie, der sogenannten „Stadiondiplomatie“. China baut in den Ländern der Peripherie und Semiperipherie Fußballstadien und bekommt dafür als Gegenleistung Zugang zu wichtigen Rohstoffquellen, wie z.B. Erdöl in Angola, Bauxit in Jamaika oder Fisch in Kamerun. Über 100 Stadien sind es bereits, die China unter dem Motto der „Freundschaft“ bauen ließ, und viele weitere sind in Planung. Dabei profitiert China in weit höherem Ausmaß als die Empfängerländer, zumal chinesische Unternehmen für den gesamten Prozess von der Planung über die benötigten Materialien und Arbeitskräfte bis hin zum Aufbau der Stadien verantwortlich sind, und auf lokale Arbeiterinnen und Arbeiter weitgehend verzichtet wird. Für die Instandhaltungskosten müssen dann aber die Empfängernationen aufkommen, weshalb viele dieser Stadien sehr bald wieder dem Verfall ausgesetzt sind. Häufig sind diese Länder auch gezwungen, Kredite bei China aufnehmen, um die Stadien erhalten zu können, was die Abhängigkeit zu China weiter vertieft und über einen längeren Zeitraum zu einer weiteren Peripherisierung ebendieser Länder führt.
Fußball als interner Machtfaktor
Seit ein paar Jahren kommt es in China aber auch zu einem Wandel auf gesellschaftlicher Ebene und zu einem Wiederaufleben nationalistischer Tendenzen innerhalb des Landes, die durch den zunehmend repressiven Parteistaat weiter verstärkt werden. Der Fußball dient innerhalb Chinas als Vehikel, den Stolz und die Bindung der Bevölkerung zur eigenen Nation zu stärken und eine gemeinsame Identität zu stiften. Eines der Hauptziele der chinesischen Fußballreformen ist es, den „chinesischen Sportsgeist“ voranzutreiben und so Ruhm für die chinesische Nation einzubringen. Das Nationalteam soll so schnell wie möglich Erfolge auf der Fußballbühne einfahren und so ein Vorbild für die Bevölkerung darstellen. Außenpolitisch hingegen versucht sich China an der Ausübung von Soft Power und benutzt dazu ebenfalls den Fußball. Beide Aspekte verschmelzen in der Austragung von Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen 2008 in Peking oder einer geplanten Fußballweltmeisterschaft. Bei solchen Events kann sich China vor einem globalen Publikum als Weltmacht inszenieren, die chinesische Innovationsstärke präsentieren und gleichzeitig an nationale Gefühle in der Bevölkerung appellieren.
China möchte einen Fußballboom erzeugen, der die gesamte Bevölkerung erfasst. Fußball soll zum Nationalsport werden. Das dient einerseits dazu, das Problem einer zunehmend übergewichtigen Gesellschaft in China in den Griff zu bekommen, andererseits möchte China einen enormen Fußballmarkt schaffen, um Absatzmöglichkeiten für das Geld der schnell wachsenden Mittelschicht bieten zu können. Das Potential ist riesig, da es noch immer sehr viele Chinesinnen und Chinesen gibt, die nicht sportaffin sind. Diesen Faktor möchte die Regierung möglichst schnell ändern. Denn immer mehr globale Unternehmen richten ihre Unternehmensentscheidungen am chinesischen Markt aus, und ein großer Markt für die Sportindustrie könnte viele Investitionsmöglichkeiten bieten.
Fußballweltmacht China?
Was die Zukunft für den chinesischen Fußball bringen wird, wird sich aber erst weisen. Es wird spannend zu beobachten, ob die großangelegte, staatlich forcierte Strategie zeitnah Erfolge bringt und ob China es schafft, sich als Fußballmacht zu etablieren. Ein wesentlicher Punkt, von dem der fußballerische Erfolg Chinas abhängen wird, ist, ob es die Regierung schafft, das Fußballprojekt langfristig auf nachhaltige Beine zu stellen. Nur dadurch kann China auf lange Sicht Erfolg in einem Bereich haben, der bisher von Europa und Lateinamerika dominiert wurde. Fest steht, dass China seine Bemühungen um eine stärkere Rolle im globalen Machtgefüge weiter forcieren und dass der Fußball dabei auch zukünftig einen wesentlichen Faktor darstellen wird. Ob der Fußball der Schlüssel zur Erreichung des „Chinesischen Traums“ und der Wiederherstellung historischer Machtverhältnisse sein wird, bleibt jedoch offen.
Klemens Lobnig
Klemens Lobnig hat Internationale Entwicklung an der Universität Wien studiert und seine Masterarbeit zum Thema "Per Masterplan zur Fußballmacht. Chinas neue Fußballökonomie als Ausdruck des chinesischen Aufstiegs. Eine Betrachtung aus weltsystemanalytischer Perspektive" verfasst. Er ist Gründer des Fußballblogs www.bsidefootball.com.
Kontakt: klemens.lobnig@gmail.com
Weiterführende Links:
- Journal für Entwicklungspolitik