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Abhängigkeit erklären, statt Entwicklung zu messen.

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Zentrum und Peripherie

Der US-amerikanische Historiker Immanuel Wallerstein hat mit seiner Weltsystem-Theorie die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen Zentralräumen und abhängigen Peripherien illustriert. Staaten und Regierungen organisieren sich laut Wallerstein in einer internationalen Arbeitsteilung, die sich in Zentrum (Ausbeutende), Semiperipherie (Ausbeutende und Ausgebeutete) und Peripherie (Ausgebeutete) untergliedert. Messbar sind solche Zusammenhänge nur bedingt.
Anlässlich des Todes Wallersteins am 31. August 2019 luden der Promedia Verlag, der Mattersburger Kreis, das Paulo Freire Zentrum und das Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien zu einer Diskussion über die Relevanz der Weltsystem-Analyse in einer Zeit, in der die Forschung von Effizienzlogik und Quantifizierbarkeit dominiert wird.

Forschung über nationale Grenzen hinweg.

Die Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Andrea Komlosy warf einen Blick auf „Wallersteins Wiener Schule”. Als „Wallerstein-Anwenderin der ersten Stunde“ sei sie Ende der 70er Jahre in den Seminaren Peter Feldbauers (Anm.: ehemaliger Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte) zum ersten Mal mit Wallerstein in Berührung gekommen. Unter der „Wiener Schule” versteht sie ein Netzwerk von Personen, die maßgeblich durch die Seminare Feldbauers geprägt wurden. Geeint habe sie der Wunsch, den ‚methodologischen Nationalismus‘ zu überwinden, sprich globale, nationale und regionale Untersuchungen in größere Kontexte einzubinden, weil „die Entwicklungsmöglichkeiten sich nur aus der Rolle im System erklären lassen“, so Komlosy.
Für Wallerstein war der hegemoniale Niedergang der USA ein Zeichen, dass die zyklische Erneuerungskraft des Kapitalismus an seine systemimmanenten Grenzen gestoßen sei. Auch wenn es dafür keine Evidenz gebe, so hätte er doch „Mut zur Prognose“ bewiesen.
Für diesen Mut zur Prognose wurde Wallerstein häufig kritisiert, so Wirtschaftshistoriker Erich Landsteiner. Nicht selten sei er Frontalangriffen von Wirtschaftshistoriker*innen ausgesetzt gewesen, weil seine Vorstellung eines kapitalistischen Weltsystems nicht falsifizierbar sei.

Über Messungen und Vergleiche hinaus.

Wallersteins Ideen seien immer noch aktuell, so Wirtschafts- und Sozialhistoriker Markus Lampe, etwa für die Befreiungstheologie oder um zu beobachten, wie sich Gewinne aus internationalem Handel verteilen. Doch die Realität sieht anders aus. Für die Mehrheit der Wirtschaftshistoriker*innen ist Wallerstein relativ unbedeutend. Internationale Zusammenhänge werden in der Wirtschaftsgeschichte anders gedeutet. Der methodologische Nationalismus sei nie aufgegeben worden, deshalb habe Wallerstein es mit seiner Analyse über Grenzen hinweg schwer gehabt. Wachstum und Entwicklung würde an nationalen Parametern gemessen, die vergleichend herangezogen werden. Doch, so Lampe, es brauche eine Analyse, die über nationale Vergleiche hinausgeht – ein System, das die historisch geschaffenen Ausbeutungslogiken in den Blick nimmt. Ein solches System könne und müsse nicht quantifizierbar sein.

Skepsis gegen Realsozialismus und das kapitalistische Weltsystem.

Als Übersetzer des dritten Bandes des Wallersteinschen Werks warf der Historiker David Mayer einen Blick auf das Verhältnis Wallersteins zum „sozialistischen Weltsystem“.
Der Sozialismus habe Wallersteins Denken maßgeblich geprägt, so Mayer. Allerdings stand Wallerstein dem sowjetischen Modell des „Realsozialismus“ skeptisch gegenüber, habe gar den „altmarxistischen Mythos“ einer sozialistischen Revolution zerstört. Die russische Revolution im Jahr 1917 hat Wallerstein nicht als sozioökonomische Transformation begriffen, sondern als bloßes politisches Ereignis, das die semiperipheren Regionen der Sowjetunion innerhalb des Weltsystems zu modernisieren versucht habe.
Die „zentrale revolutionsgeschichtliche Achse“ habe sich in den Jahren 1848 und 1968 ereignet. Denn hier seien erstmals neue Akteure auf den Plan getreten: antisystemische Bewegungen, die das System von Grund auf herausfordern wollten.
Wallerstein selbst bezeichnete sich als Denker der „neuen Linken“. Ein „buntes Konglomerat“ aus Frauen-, Dekolonialisierungs- und Friedensbewegungen, das das System von Grund auf herausforderte und das kapitalistische Weltsystem ins Wanken gebracht hat.

Ungleiche Entwicklung verstehen.

Für Entwicklungssoziologin Karin Fischer hilft der Wallersteinsche Begriff der „Peripherisierung” dabei, ungleiche Entwicklung zu verstehen.
Ohne Wallerstein seinen Ungleichheitsanalysen einer globalen Güterkette reine Sektoranalysen. Die Frage nach Profitaneignung und Ungleichheit falle ohne Wallerstein komplett aus dem Blick. Das Prozesshafte in Wallersteins Analyse bezeichnet sie als „Gegengift“ gegen kurzatmige Analysen der Politikwissenschaft.
Wallerstein wollte mit seinem System die in Disziplinen geteilte Forschung überwinden. Sein Ziel war es, ein “unthinking” (dt. “ent-denken”, Wallerstein selbst bevorzugte die Übersetzung “kaputtdenken”) der Sozialwissenschaften voranzutreiben. Für die Entwicklungsforschung sei dieser interdisziplinäre Ansatz Wallersteins enorm wichtig. Irreführende und einengende Annahmen waren für Wallerstein ein intellektuelles Hindernis, die es zu überwinden gilt. Es gehe darum, die Perspektive zu wechseln, von den Rändern denken – von den Rändern eines Systems, das die ganze Welt umfasst.

Daniela Hinderer studiert Internationale Entwicklung an der Uni Wien und ist Praktikantin im Paulo Freire Zentrum. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at

Photos © Gerald Faschingeder, Paulo Freire Zentrum.

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