Die Türkei im Fokus des Journal für Entwicklungspolitik
Der jüngste Putschversuch am 15. Juli 2016 sei zwar nicht Anlass für die Herausgabe gewesen, meinte Clemens Pfeffer (Mattersburger Kreis) eingangs, aber er zeige, wie wichtig und aktuell das Thema ist. Nach diesen einleitenden Worten erläuterten die Herausgeber İlker Ataç (Uni Wien) und Joachim Becker (WU Wien) sowie die Mitautorinnen Pınar Bedirhanoğlu (METU Ankara) und Funda Hülagü (Maltepe Universität Istanbul) ihre Beiträge zum Heft.
Politische Beziehungen im Wandel
İlker Ataç stellte die rethorische Frage, welche Bedeutung die namensgebenden Begriffe adalet (dt.:Gerechtigkeit) und kalkınma (dt: Fortschritt) für die heutige AKP, die regierende Partei in der Türkei, eigentlich haben. In der internationalen Politik hätten sich die Beziehungen zur AKP verschoben, aber wie sähen diese nun aus? Und in welchen Policy-Bereichen sei es zu Veränderungen gekommen? Das alles seien wichtige Fragen, die die Forschung derzeit zu beantworten versuche.
Ataç kam schließlich auf die Flüchtlingspolitik der Türkei zu sprechen. Mit dem neuen Migrationsgesetz, das die Menschenrechte stärker betont, habe die Türkei auch ein neues Grenzregime geschaffen. Man dürfe dabei nicht vergessen, dass Menschenrechte in der internationalen Politik auch benutzt werden, um Macht auszuüben. Im Vergleich mit dem ebenso neuen Grenzregime Mexikos falle auf, dass in Mexiko irreguläre Migration und die Beihilfe dazu entkriminalisiert wurden. In der Türkei, so Ataç, sei das nicht der Fall gewesen.
Die Türkei - ein autoritärer Staat?
Pınar Bedirhanoğlu sprach daraufhin über die Transformation des türkischen Staates. In ihrem Beitrag zum Heft (gemeinsam mit Funda Hülagü) habe sie versucht, diese Transformationen aus einer marxistischen Perspektive zu erklären. Inzwischen werde diskutiert, ob die Türkei zu einem autoritären Staat, oder zu einem Polizeistaat, geworden sei. Die Dinge seien außer Kontrolle geraten, seit 2010 gebe es einen Anstieg der Gewalt im Land. Der Begriff "Neo-Autoritarismus" beschreibe die Veränderungen aber nur unzureichend, sie spreche lieber von einem Regimewechsel. Der türkische Staat orientiere sich immer stärker am globalen Kapital - Finanzialisierung und Kapitalismus hätten zu einer Veränderung der Gesellschaft geführt.
Veränderungen im Sicherheitsapparat
Funda Hülagü arbeitet im neuen Journal für Entwicklungspolitk die Zeit nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 auf. In ihrem Vortrag sprach sie über die zahlreichen Entlassungen, besonders in der Armee, und erklärte die Umstrukturierung des türkischen Sicherheitsapparats in den letzten Jahren. Der Putschversuch habe diese Umstrukturierung noch beschleunigt: Immer mehr Kompetenzen würden vom Militär zur Polizei und damit in den Einflussbereich des Innenministeriums verschoben, etwa die Gendarmerie und die Küstenwache. Gleichzeitig würden private Sicherheitskräfte immer einflussreicher, indem sie stärker als bisher in staatliche Strukturen eingebunden werden. Aus einer Klassenperspektive lasse sich beobachten, dass diese privaten Sicherheitskräfte, die größtenteils aus der Arbeiterklasse kämen, nun den Besitz der Bourgeoisie gegenüber ihrer eigenen Klasse verteidigen: "Subordination by dispossession (dt.: Unterdrückung durch Enteignung)" nennt Hülagü das. Auf diese Weise helfe der private Sicherheitssektor mit, die Ungleichheit in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten.
Wirtschaftlich verwundbar
Joachim Becker zog schließlich einen Vergleich zu Militärdiktaturen in Lateinamerika. Die Wirtschaftsstrategie der Türkei in der jüngeren Vergangenheit sei der jener Staaten sehr ähnlich gewesen. So seien auch in der Türkei in den 1980er Jahren Exporte gefördert worden. Außerdem sei die türkische Wirtschaft immer vom Zustrom ausländischen Kapitals abhängig geblieben. Es handle sich in beiden Fällen um sehr verwundbare Wirtschaftsmodelle. In diesem Kontext sollte auch das Wirtschaftswachstum, das oft als Erfolg der AKP gehandelt werde, kritisch betrachtet werden. Denn wenn die Kapitalflüsse versiegen, werde auch das Wachstum ausbleiben, so Becker.
Insgesamt wurden in den Vorträgen viele Fragen aufgeworfen. Wenngleich die nun erschienene JEP-Ausgabe einige davon beantwortet, scheint die Forschung zur Türkei noch lange nicht am Ende zu stehen.
Von Michael Straub
Der Autor ist Mitglied im Redaktionsteam des Paulo Freire Zentrum. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at